aus der Haut gefahren

aus der Haut gefahren, 2007
Kleidungsstücke der Künstlerin
Diptychon
2 Fotos
je 60 x 80 cm

aus der Haut gefahren, 2007
Clothes of the artist
Diptych
2 photos
each 60 x 80 cm

aus der Haut gefahren, 1999, 
Kleidungsstücke der Künstlerin, Motorkugeln, Raumgröße
Installation


  „Aus der Haut gefahren“, Kleidungsstücke der Künstlerin liegen auf dem Boden, als folgten sie den Anordnungen eines Choreographen. Sie sind mitnichten wahllos verstreut, sondern sie warten nur darauf, daß der Impuls der mit ihnen verbundenen Motorkugeln sie in Bewegung versetzt, um auf der Bühne des jeweiligen Ausstellungshauses ein eigenes Leben zu entfalten. Wenn Hebbel uns darüber belehrt, daß Kleider Leute machen, bei ihm vorzugsweise für den Betrachter, so weist Neugebauer uns darauf hin, daß das Kleid des Menschen, zu seiner sprichwörtlich zweiten Haut geworden, für den Träger eine spezifische Identität verbürgt. In dem Maße, in dem er die Kleider wechselt, wechselt er in der Regel auch in Gestus und Habitus von einer Rolle in eine andere. Rimbauds Befund vom Ich, das ein anderer ist, wird in Neugebauers Installation spielerisch umgesetzt. Die Varietäten ihrer zum Tanz ausgebreiteten Garderobe präsentieren eine Vielzahl unterschiedlicher Personae, hinter denen sich das biographische Ich der Künstlerin verbirgt. Da ist offensichtlich gleichermaßen Platz für die grande dame wie den verführerischen Vamp, für das patente Mädchen, die tüchtige Akademikerin oder die einfallsreiche Künstlerin. Man könnte auch sagen: Wie Neugebauer sind wir die Summe all der Rollen, die wir in unserem Leben einnehmen und für deren Auftritt uns unsere Garderobe die jeweils passende Kostümierung zur Verfügung stellt. Das eigentliche Ich ist dann wohl nur noch der vage Rest, sich wie Gertrude Stein darin erkennend, daß der ihm zugehörige Hund schwanzwedelnd und erkennend bellt, sobald er seiner/unser ansichtig geworden ist. Die motorisierten Kugeln, die Ursula Neugebauer ihrer zweiten Haut beigegeben hat, sorgen nicht nur für die vis motrix ihrer textilen Hüllen, sondern halten diese auch auf dem Boden der Schwerkraft. Sie hindern sie am Fliegen, was wir auf den Schwingen einer träumerischen Phantasie gleichwohl tun, wenn wir, geschlüpft in die motivierende und vitalisierende Gestalt einer neuen Garderobe, uns anheischig machen, die Welt zu erobern.

aus der Haut gefahren, 1999, 
Clothes of the artist, motorised balls, room size
installation

  ‘The artist’s clothes lie on the floor as if following the instructions of a choreographer. They are by no means scattered at random, but are simply waiting for the impulse of the motorised balls connected to them to set them in motion so that they can unfold a life of their own on the stage of the respective exhibition venue. If Hebbel teaches us that clothes make the man, in his case preferably for the viewer, Neugebauer points out that a person’s dress, which has become his proverbial second skin, guarantees a specific identity for the wearer. To the extent that he changes his clothes, he generally also changes his gesture and habitus from one role to another. Rimbaud’s finding of the self that is another is playfully realised in Neugebauer’s installation. The varieties of her wardrobe spread out for the dance present a multitude of different personae, behind which the artist’s biographical self is concealed. There is obviously room for both the grande dame and the seductive vamp, for the smart girl, the capable academic or the imaginative artist. You could also say that, like Neugebauer, we are the sum of all the roles that we take on in our lives and for whose appearance our wardrobe provides us with the appropriate costumes. The actual self is then probably only the vague remainder, recognising itself, like Gertrude Stein, in the fact that the dog belonging to it wags its tail and barks in recognition as soon as it has become aware of it. The motorised balls that Ursula Neugebauer has added to her second skin not only ensure the vis motrix of her textile covers, but also keep them on the ground of gravity. They prevent them from flying, which we nevertheless do on the wings of a dreamy fantasy when, slipped into the motivating and vitalising form of a new wardrobe, we set out to conquer the world.

Michael Stoeber